Veronika Draexler: Selbsterneuerung - Die rituellen Prinzipien
Ist das Betreten einer Kunstausstellung oder einer Performance manchmal mit dem Betreten einer Kirche vergleichbar?
Ist das Betreten einer Kunstausstellung oder einer Performance manchmal mit dem Betreten einer Kirche vergleichbar? Alle drei sind in gewisser Weise ritualistische Momente: Ob als Teilnehmer oder Zuschauer, man könnte sagen, dass man eine „Abfolge von Aktivitäten mit Gesten, Worten und Objekten erlebt, die dazu dienen sollen, übernatürliche Wesenheiten oder Kräfte im Namen der Beteiligten zu beeinflussen“ . Und während ein Aspekt der Kunstwelt einen stählernen Rationalismus widerspiegelt, haben Künstler*innen diesen Zustand seit den frühen 70er durch Performance in Frage gestellt und entwickelten ihre eigene Form der Spiritualität durch dieses Medium, indem sie eine Kombination aus kulturellen Symbolen, persönlichen Fetischen und mystischen Erfahrungen kombinierten.
Veronika Dräxler verwendet in ihrer jüngsten Performance Renewing Self eine Kombination aus Objekten und Aktionen, die sie im Ausstellungsraum buchstäblich und bildlich nutzt um sich wieder mit der Erde zu verbinden, und über unsere Beziehung zum allgegenwärtigen technologischen Apparat nachzudenken. Aus dieser Perspektive können wir Dräxlers Performances als in biografischen Ereignissen verwurzelt betrachten, die eine Kombination aus intensiver religiöser Erfahrung, bewusster Abhängigkeit von Technologie und ihre Bikulturalität, einer Kombination aus europäischer und lateinamerikanischer Kultur, widerspiegeln. Als Summe ihrer einzelnen Teile ergibt sich die Performance aus einem Prozess, der sowohl ein menschliches Bedürfnis nach Ritual ausdrückt, als auch die Hybridität unserer Kultur in den Vordergrund stellt. Nicht nur die Herkunft der Künstlerin wird repräsentiert, sondern auch die Auswirkungen der Verbindung zwischen Technologie und Körper, sowie der Notwendigkeit von Ritualen, um sich zu erden und einer bestimmten Realität zu entfliehen, die von einem standardisierten Markt auferlegt wird.
Dräxlers Auftritt folgt in etwa einem rituellen Protokoll, und damit einer Reihe klar definierter Handlungsanweisungen, die sie vor der Öffentlichkeit durchführt: Sie zündet Kerzen mit einem Tesla-Feuerzeug an, lässt Sand auf einen Teller rieseln, stapelt Palo Santo darin auf, schneidet zwölf Zentimeter ihres Haares ab, verbrennt es, vermischt und vergräbt die Überreste, platziert Smartphone-Dummies neben Fidget Spinner, dreht letztere und schaut ihnen zu, bis sie schließlich von selbst stehen bleiben. Als Liste aufgeschrieben, erinnern diese Gesten an konzeptuelle Performances der 1970er Jahre, in denen die verschiedenen Schritte als Anleitung für den Betrachter gedruckt wurden, wie etwa in Bruce Naumans "Body Pressure". Dräxlers Prozess ist jedoch persönlicher. Sie teilt mit den Zuschauern einen Moment der Intimität, in dem jede ihrer Handlungen mit privaten Bräuchen, traditionell-spirituellen Praktiken und kulturellen Symbolen in Verbindung gebracht werden kann.
Es gibt natürlich keine Kultur, die unabhängig existiert, ohne Verbindung zu anderen Kulturen. Ebenso sind die von Dräxler ausgeführten Handlungen, deren Ursprünge und Interpretationen nicht an eine bestimmte Kultur gebunden. Jede einzelne Geste wird zum Schauplatz einer komplizierten und verschlungenen Reihe kultureller Bezüge. Nehmen wir zum Beispiel das Anzünden von Kerzen. Als christliches Ritual lesbar, reicht die Herkunft dieser Geste mindesten zurück zu jüdischen sowie heidnischen Traditionen. Dräxlers performative Erfahrung betont den Synkretismus, indem sie neue zeremonielle Handlungen erfindet und diese mit bestehenden mischt.
Palo Santo („heiliges Holz“) ist eine in Lateinamerika heimische Baumart, welche traditionell in Reinigungsritualen verbrannt wird. Durch die Kombination mit brennenden Kerzen verbindet Dräxler symbolisch zwei Welten und erzählt metonymisch eine Geschichte von Eroberung und Kolonialisierung. Diese provokative Gegenüberstellung verbindet nicht nur ihre eigenen biografischen Wurzeln, sondern erinnert auch an die kulturelle Hybridität, die durch die Ankunft der Spanier auf dem Kontinent verursacht wurde. Neben entsetzlicher Gewalt und unerbittlicher wirtschaftlicher Ausbeutung führte die Evangelisierung der einheimischen Bevölkerung zu innovativen und fruchtbaren Beispielen des kulturellen und rituellen Synkretismus. Und einige davon können als erstaunliche Performances gelesen werden, nicht unähnlich denen, die wir im Kunstkontext erwarten oder erhoffen.
San Juan Chamula, ein Dorf im Hochland von Chiapas, Mexiko. Betreten wir die 500 Jahre alte Kirche des Dorfzentrums. Im Inneren ist der Boden statt mit Bänken mit Heu, Teelichtern, Wachs und Kiefernnadeln ausgestattet. Hühner huschen herum und genießen eine kurze Gnadenfrist, bevor sie am Fuße des Hauptaltars geopfert werden. Gläubige, Erwachsene sowie Kinder, trinken Coca-Cola und beten vor kleinen Heiligenstatuen aus Ton. Touristen gaffen voyeuristisch. So seltsam es auch klingen mag, die Coca-Cola ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Rituals, mehr noch als die armen Hühner. Junge und alte Glaubensgeschwister trinken enorme Mengen des Getränks und lassen gewaltige Rülpser erklingen. Die Idee dessen ist, dass sie bösartige Geister aus ihren Körpern vertreiben. Der dunkle, muffige Raum der Kirche hallt wider von dem Klang des ungenierten und gemeinschaftlichen Aufstoßens.
Auf diese Weise integrieren die Menschen von San Juan Chamula, obwohl sie offiziell römisch-katholisch sind, Elemente vorkolonialen Glaubens und Riten in ihre religiösen Praktiken. Die Coca-Cola-Flaschen werden zum Symbol und Ort dieses Synkretismus: ein Mystizismus der Ahnen, ausgedrückt in der Sprache und Symbolik des orthodoxen Christentums und akzentuiert durch das Symbol par excellence der Globalisierung und der westlichen Moderne. Eine Lesart dieser Aneignung von Coca-Cola durch die Menschen von San Juan Chamula würde diese lediglich als Beweis für die unvermeidliche Hegemonie der transnationalen Konzerne erklären, die die lokalen Traditionen verdrängen und diese korrumpieren. Aber hier steckt mehr dahinter. Die Flasche inklusive des Getränks sind lediglich Elemente eines unerbittlichen synkretistischen Ansatzes, der nicht unpassender oder widersprüchlicher ist, als jeder andere Aspekt dieser gelebten und sich ständig weiterentwickelnden Tradition. Vielmehr sind die Gläubigen von San Juan Chamula eben keine passiven Opfer der Globalisierung. Diese Menschen haben Elemente der zeitgenössischen Realität kreativ in die Verhaltensmuster ihrer Ahnen integriert und hierdurch demonstriert, wie eine lebendige, selbstbewusste Kultur fremde Elemente einbeziehen kann, um ihre Schlüsselwerte zu stärken und zu aktualisieren.
In diesem Sinne kann das Beispiel von San Juan Chamula, neben anderen Mittel- und Lateinamerikanischen Ritualpraktiken einen Weg aufzeigen, uns Dräxlers Arbeit anzunähern. Diese spezifische rituelle Integration zeitgemäßer Symbole wie etwa eines Feuerzeugs der Marke Tesla und der Smartphone-Dummies stellen eine Reflexion über den Einfluss der Technologie auf unsere persönlichen Gemütszustände dar. Sie weisen aber auch darauf hin, wie diese fremden, scheinbar seelenlosen Objekte unser Leben inzwischen so weit durchdrungen haben, dass sie ein noch wichtigerer Teil des menschlichen Lebens geworden sind, als jegliche traditionellen heiligen Objekte. Durch die Integration und Reintepretation von bereits symbolisch aufgeladenen (Marken-)Produkten und Repliken führt Dräxler eine Möglichkeit der Distanzierung, der Neuerfindung und eine innovative Hybridisierung von Ritualen auf: Dräxlers Arbeit bietet einen Ausweg aus dieser Technologie an; oder sozusagen zumindest einen zeitweiligen Aufschub. Und ist das nicht, letzten Endes der wahre Nutzen und Wert von Ritualen?
This text has been published in the Catalogue-Magazine by Veronika Dräxler on the occasion of her exhibition "Post-Everything Ritualism & Hypernaturality at Galerie GEDOKmuc, Munich, October 16th - 30th, 2019
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