Stadtnatur - Wir sind nicht allein. Diese Stadt ist voller Leben.

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Das Leben in der Stadt begegnet uns an jeder Ecke, beim einkaufen, auf der Straße oder in der Bahn. Selbst wenn wir nachts vermeintlich alleine unterwegs sind, sind wir es doch nie. In irgendeinem Haus brennt immer ein Licht. Manchmal können wir einen Schemen hinter einem Vorhang sehen. Einen Menschen, der auf dem Sofa sitzt oder sich in der Küche ein Essen zubereitet.

Jede:r von uns kam schon einmal spät nach Hause, war selber schon einmal der Schemen hinter dem Fenster. Wir wissen wie es ist, eine Geschichte entsteht in unserem Kopf, die uns den Menschen hinter dem Fenster näher bringt. Der Vorhang mag uns trennen und wir mögen nie ein Wort mit einander gewechselt haben, aber über die Geschichte in unserem Kopf treten wir in Verbindung, machen die Lichter zu Gefährten für unseren Weg.

Christian Hönig, Takafumi Tsukamoto und Andreas Greiner bei der Finissage der Ausstellung (re)connecting.earth in Berlin - Meret Freisen
Christian Hönig, Takafumi Tsukamoto und Andreas Greiner bei der Finissage der Ausstellung (re)connecting.earth in Berlin - Meret Freisen

Und es gibt auch noch die vielen stillen Begleiter:innen auf unserem Weg. Mit jedem Schritt gehen wir an ihnen vorbei. Die kleinen ruhen unbemerkt in ihren Winkeln und Ritzen. Die großen hingegen sind kaum zu übersehen. Sie säumen unseren Weg, ein einzelner markiert vielleicht unser Ziel in der Entfernung. Es ist ein alter Baum, seine Äste spannen weit zwischen den Häusern. Die Lichter hinter den Fenstern erzählen uns Geschichten von schlaflosen Menschen.Was in den Bäumen vor sich geht können wir nur erahnen. Wenn wir sie ansehen, erkennen wir ihren Wuchs, sehen die hohe Gestalt und den Mantel aus Blättern, einen abgebrochenen Ast, oder auch eine nackte offene Stelle knapp über dem Boden, eine alte Stammwunde. Dabei entstehen auch wieder Geschichten in unserem Kopf, zum Beispiel wie ein Auto einmal in diesen Baum gefahren ist. Nicht mit Absicht, sondern nur so nebenbei, weil beim einparken das Radio so laut war. Vielleicht war es auch gar nicht so banal, sondern ein Notfall, eine Feuerwehr, die sich nicht anders hinstellen konnte um die rettende Leiter auszufahren.

Der Baum selber ist in diesen Geschichten dann meist ein Statist, zufälligerweise inmitten der Situation oder vielleicht auch nur ein Beobachter am Rand. Wir stellen uns vor was er im Laufe seines Lebens so alles erlebt haben muss. Wie die Häuser um ihn herum gewachsen sind. Wie Menschen unter dem Baum zusammen kamen, um Streit zu schlichten oder wichtige Beschlüsse zu fassen, vielleicht waren es auch Soldaten die unter ihnen durchzogen im Versuch den Lauf der Geschichte zu ändern. Das lange Leben der Bäume inspiriert uns. Es reicht zurück in vergangene Zeiten, die wir nur aus Erzählungen kennen. Die Bäume waren dabei.

Baumpflanzaktion bei der Finissage der Ausstellung (re)connecting.earth in den Kleingärten in Berlin zusammen mit Christian Hönig - Meret Freisen
Baumpflanzaktion bei der Finissage der Ausstellung (re)connecting.earth in den Kleingärten in Berlin zusammen mit Christian Hönig - Meret Freisen

Die Geschichte eines Baumes jedoch kennen wir selten. Dabei erzählt er sie uns wenn wir ihn anschauen. Die Geschichte von der Begegnung mit dem Specht, der die lästigen Käfer unter der Rinde hervor pulte. Wie der Specht jedes Jahr auch an diese eine wunde Stelle am Stamm klopfte, wie er nach Jahren des Klopfens ein Loch geschaffen hatte. In den Baum hineingekrochen ist und sich im Inneren ein Nest gebaut hat. Wie der Wind dem Baum den Pollen eines anderen Baumes zutrug und ihn damit an seiner Blüte kitzelte, wie der Samen wuchs. Wie der Baum seine Äste zwischen die Häuser streckte, dorthin wo die Sonne immer scheint. Er war dort nicht alleine. Andere Bäume hatten diese Lücke ebenfalls ausgemacht und ein stiller Kampf entbrannte. Die Unterlegenen sind mittlerweile vergessen, man kann aber noch erkennen wo sie einmal gestanden haben müssen. Eine Delle in der Krone des Siegerbaumes zeigt uns die Stelle wo der Verstorbene gelebt haben muss. Wenn er eine Wahl gehabt hätte, vielleicht wäre er dem Kampf gerne ausgewichen, wäre weiter gezogen, dorthin wo es genug Licht für seine Blätter und ausreichend Wasser für seine Wurzeln gegeben hätte. Hätte er es denn Wollen können?

Es fällt schwer sich für Bäume überhaupt so etwas wie ein Wollen vorzustellen. Leben wollen sie, das ist klar, darin sind sie uns ähnlich. Trinken, Essen, Wärme. Darin unterscheiden wir uns nicht. Unser Wollen aber ist zielgerichtet auf ein Wohl, etwas das uns gut tut. Wenn es uns Menschen an Essen fehlt, wenn es unerträglich heiß wird und wir Durst haben, dann gehen wir los und tun das nötige um dieses Wohl zu erreichen.

Den Bäumen fehlt es an dem meisten was mensch so braucht um sein eigenes Wohl zu verfolgen. Sie behaupten sich aber mit einer solchen Zuversicht, dass wir ihre erratischen Versuche das Beste aus ihrem Leben herauszuholen nicht als solche erkennen. Blind treiben sie ihre Wurzeln in die Erde. Ihre Äste und Blätter strecken sie erst einmal in alle Richtungen aus. Irgendwo wird die nährende Sonne schon sein. Am Anfang brauchen sie nur wenig davon, sie sind noch klein und in ihrer Jugend haben sie auch noch andere Bedürfnisse als wenn sie erst mal groß sind.

Wenn Bäume auch auf uns blind wirken, allein schon weil es ihnen an Augen fehlt, dann haben sie doch jenseits von diesen ein ausreichendes Sensorium. Sie können hell und dunkel wahrnehmen und auch Bewegungen. Mit den Wurzelspitzen können sie Wasser schmecken. Sie können riechen und auf die Pheromone von anderen Bäumen oder Insekten reagieren. Über die Veränderung von elektrischen Ladungspotentialen in den Zellen ihrer Rinde können sie spüren wie sich ihre Tonnenlast über und unter der Erde bewegt, wie gut sie die Balance halten können. Sie erinnern sich dabei sogar von welcher Seite der Wind üblicherweise weht. Manche Erinnerungen, an besonders gute Zeiten oder eine Katastrophe können sie sogar an ihre Samen weiter geben.

Jedoch sind ihre Sinne rudimentär, es ist mehr ein Tasten als ein Erkennen, sie reagieren auf die Reize ihrer Umgebung. Dabei sind sie aber nicht unbeholfen. Wenn Wasser vorhanden ist und sie es erreichen können, dann werden sie die Kraft dazu aufbringen. Die Seite von der das Licht kommt wird mit besonders vielen Blättern ausgestattet sein um die Lichtausbeute zu erhöhen. Die dem Wind zugeneigte Seite wird stark gemacht und hält in der Regel so lange bis der Sturm dreht und aus einer anderen Richtung als sonst zuschlägt. Sie benötigen dazu aber immer einen Impuls von außen. Aus sich heraus spielen sie nur ein Programm mit verschiedenen Variablen ab. Einen Code, der ihnen vorgibt was zu tun ist und fast wie eine Maschine muss der Baum diesen befolgen.

Diese stummen Protagonisten sind den Umständen ausgeliefert, abhängig von dem was sie vorfinden. Dabei sind sie nicht hilflos. In gewissem Maße können sie reagieren. Wenn ein Ast bricht treiben sie einen neuen. Wenn die Sonne zu stark brennt, dann können sie ihre Blätter kleiner und heller machen. Helfende Pilze im Boden verändern die Zusammensetzung der Erde, so dass die Bäume mehr von den Nährstoffen bekommen, die sie benötigen. Ein Baum kann einiges wegstecken. Ständig nagen große und kleine Tiere an ihm, der Schwund ist eingepreist. Sie sind stark, manche können mit ihren Wurzeln sogar die Mauern und Fundamente von Häusern brechen. Aber sie müssen immer mit dem auskommen was da ist. Dabei sind sie sehr geschickt. Was ihnen an Bewegung fehlt machen sie mit Individualität wieder wett. Auf dem Höhepunkt seines Lebens hat ein Baum seinen Raum gemeistert und für sich beansprucht. Wie kein zweiter steht er da. Kein anderer hat erlebt was er erlebt hat. Jeder von ihnen hat Sonne und Wind anders gespürt, andere Begegnungen gehabt. Jeder kann eine andere Geschichte erzählen.

Im Hier und Jetzt erzählen viele Bäume ihre Geschichte sehr eindringlich. Diese Geschichten sind kaum zu übersehen. Sie erzählen uns von einer großen Veränderung. Die Welt um sie herum ist nicht mehr die gleiche wie damals als sie ihren Spross das erste Mal in den Himmel richteten. Die Sonne brennt und um sie herum ist eine heiße Decke aus Stein. Sie versuchen wie gewohnt zu reagieren, aber es geht alles viel zu schnell. In ihrer Panik werfen sie die überhitzten Blätter ab, ganze Äste und Stämmlinge geben sie auf, versuchen zu schrumpfen um sich mit dem Wasser zu genügen, das sie finden können. Aber egal wie stark sie sind, schnell sind sie nicht. Die Beschleunigung ist gegen sie.

Ihre einzige Chance auf Änderung ist dem Zufall und dem Gesetz der großen Zahl überlassen. Um weiter zu kommen müssen sie darauf hoffen, dass einer von ihnen anders sein wird, dass einer von ihnen einen Ort finden wird an dem es besser ist. Selbst wenn sie wüssten wo sie suchen sollen, sie selber werden diesen Ort nicht mehr erreichen können, also muss es der Nachwuchs richten. Sie werfen ihre Samen von sich, übergeben sie dem Wind, dem Regen, den Tieren, auf dass sie sie mitnehmen. Try and error for the win! Die Hoffnung ist ihnen gewiss, aber können sie auch auf die Zukunft vertrauen?

Heute haben wir diese Samen aufgesammelt und ihnen ein neues Haus gebaut. Das Haus brauchen die Bäume eigentlich gar nicht. Wir brauchen es wenn wir die Bäume in unsere Welt holen wollen. Wir nehmen sie mit um für ein Jahr einen gemeinsamen Weg zu gehen.

Wenn wir die Geschichten der Bäume sammeln, können wir ihnen vielleicht näher kommen, eine Verbindung zu ihnen aufbauen, so wie uns die Geschichte des Schattens hinter dem Fenster dem Menschen dahinter näher bringt. Es ist eine ungleiche Beziehung, die wir da aufbauen wollen. Sie verstehen unsere Geschichten ja nicht. Die Idee klingt bescheuert, aber es wäre leichter ein Gespräch zu führen, vielleicht sogar einen Freund zu finden, indem man nachts an fremden Türen klingelt, als wenn wir auf einen Baum einreden. Egal wie gut uns dieser kennt, wie oft er unsere Präsenz wahrgenommen hat, wenn wir morgens an ihm vorbei hasteten, mittags an seinen Stamm gelehnt im Schatten seiner Blätter saßen, er kann sich uns nur indirekt mitteilen. Was uns bleibt ist ihn zu beobachten, von ihm zu lernen. Wenn der Baum auch keine Ohren für uns hat, so wollen wir doch Augen für ihn haben. Ihre Geschichte lernen und mit ihnen zusammen eine gemeinsame Geschichte zu schreiben.

Baumpflanzaktion bei der Finissage der Ausstellung (re)connecting.earth in den Kleingärten in Berlin zusammen mit Christian Hönig - Meret Freisen
Baumpflanzaktion bei der Finissage der Ausstellung (re)connecting.earth in den Kleingärten in Berlin zusammen mit Christian Hönig - Meret Freisen