Erfahrung und Beteiligung: Mathias Kesslers dialogischer Impetus
Vom Dadaismus zu neuerer sozial engagierter Kunst hat im 20. Jahrhundert die Rolle der Betrachterin einen radikalen Wandel erfahren. Von der passiven Ausstellungsbesucherin ist die Betrachterin zur Miterschafferin des Werks und manchmal gar zu dessen Medium geworden.
«Die Kunst des ästhetischen Zeitalters hat nie aufgehört, mit dem Potenzial aller Medien zu spielen, ihre Wirkung mit der anderer Medien zu verschmelzen, die ihren Part übernehmen, und dadurch neue Figuren zu schaffen, die sinnliche Möglichkeiten wecken, die jene erschöpft hatten.»1
Vom Dadaismus zu neuerer sozial engagierter Kunst hat im 20. Jahrhundert die Rolle der Betrachterin einen radikalen Wandel erfahren. Von der passiven Ausstellungsbesucherin ist die Betrachterin2 zur Miterschafferin des Werks und manchmal gar zu dessen Medium geworden. Ob durch die Ermöglichung des Austauschs zwischen Menschen mit unterschiedlichen soziologischen Hintergründen, die Mobilisierung bestimmter Gemeinschaften oder die Neuinszenierung historischer Ereignisse: Das Aufkommen partizipativer Ansätze hat der Ästhetik neue politische, anthropologische, ökonomische und ökologische Dimensionen erschlossen. Das erweiterte Spektrum der ästhetischen Erfahrung hat das Potenzial des künstlerischen Akts oder der Anlage erhöht, die Besucherinnen zu vertiefter Auseinandersetzung mit sozialen und Umweltanliegen über das Umfeld der Kunst hinaus anzuregen. Wie Jacques Rancière schreibt: «Kritische Kunst muss verhandeln zwischen der Spannung, die Kunst zum ‹Leben› drängt und andererseits ein ästhetisches Sensorium von anderen Formen der sinnlichen Erfahrung trennt.»3
In jahrelangem Bemühen, durch ganz verschiedene künstlerische Ausdrucksformen und indem sie die Geschichte der Darstellung in Frage stellen und die Ausstellungsbesucherinnen einladen, über sozioökologische Themen nachzudenken, haben Künstler wie Mathias Kessler ein ästhetisch-politisches Vokabular entwickelt, durch welches das Wechselspiel zwischen Kunst und Leben mannigfaltige Empfindungen, Denkprozesse und Diskussionen auslösen kann.
Kesslers Werdegang mag einige seiner Forschungsinteressen, insbesondere an der Natur und ihrer Erschliessung, erklären. Bevor er sein Kunststudium abschloss, hatte Kessler seine Jugend im Kleinwalsertal, am Rand der österreichischen Allgäuer Alpen verbracht. Sein Grossvater war Fotograf und Gründer des örtlichen Skiclubs. Der junge Kessler konnte direkt beobachten, wie menschliche Eingriffe durch den Bau von Skipisten und Landschaftsarchitektur die Natur verändern. So entwickelte er früh einen Sinn für den Reiz (und illusorischen Charakter) der sogenannten Wildnis oder unberührten Natur, die man explizit für den kommerziellen Erfolg nutzte. Sein künstlerisches Schaffen seitdem zeugt von seinem Interesse an einem gewissermassen psychologisch-romantischen Paradox, indem er die Mythen und ihre Darstellung mit den realen Auswirkungen menschlichen Tuns auf die Erde verknüpft. Dies kann im Studio geschehen, wo er mit chemischen und biologischen Prozessen arbeitet – wie bei seinem Werk Nowhere to be Found, als er einen Totenkopf in ein Aquarium legte und ihn von einer darin implantierten kleinen Koralle mit der Zeit überwuchern liess – oder auf Expeditionen in entlegene Weltgegenden wie für seine Serie Staging Nature von 2007, für die er Eisberge bei Nacht in grellem künstlichem Scheinwerferlicht fotografierte. Hier wie dort zeigt Kessler die Wechselwirkungen zwischen anthropogenen Einflüssen, Beobachtungen oder minimalen Interventionen und Naturphänomenen auf.
Kesslers Fokus auf der natürlichen Welt kann sowohl als Bekenntnis zu ökologischem Engagement wie als spielerisch kritischer Kommentar zu den Möglichkeiten künstlerischer Darstellung an sich in Geschichte und Gegenwart gelesen werden. Wie Stephan Berg anmerkt, verbindet Kesslers Werk eine Weltsicht, in der das Künstliche vom Natürlichen grundsätzlich untrennbar ist, mit einer Kritik an hartnäckigen romantischen Trugbildern über die Natur.4 Dazu agiert er in einem ständigen Spannungsfeld zwischen seiner künstlerischen Suche nach dem Erhabenen in seiner heutigen Gestalt und dem kognitiven und diskursiven Potenzial seines Werks, jenseits der formalen Aspekte. Es mag befremdlich scheinen, sich irgendwo zwischen transzendenter ästhetischer Erfahrung und kognitivem Argumentieren zu verorten, aber Kessler gelingt es, die Betrachterin durch eine Kombination von interaktivem Rahmen und materiellen Objekten zu aktivieren, sodass sie Zugang zu beidem findet, sogar gleichzeitig. Die drei im Kirchner Museum Davos zu sehenden Werke sind beispielhaft für diesen Aspekt seines Schaffens und umfassen atemberaubende, gross angelegte Installationen, ebenso provokativen wie spielerischen Gesellschaftskommentar und bieten ein einladendes Umfeld zum Gedankenaustausch.
Immersive Fotografie – ästhetische Erfahrung als Beweiskorpus
Totales Eintauchen in ein Bild könnte ein Weg sein, mental in eine andere Zeit, an einen anderen Ort zu reisen, die eigene Wahrnehmung zu verändern oder gar dem Erhabenen zu begegnen. Das Bild Jarrells Cemetery, N37 °53.96‘ W81°34.71‘. Eunice Mountain (2012) aus Kesslers West Virginia Mining Landscape-Serie bedeckt den ganzen Bode und die Wände. Es bricht nicht nur mit dem weissen Kubus, sondern versetzt die Betrachterin in eine postapokalyptische Landschaft. Selbst die Tische und Bänke – im Saal installiert, damit die Besucherinnen das Werk nicht nur individuell erfahren, sondern auch gemeinsam reflektieren können – sind Bestandteil des Bilds. Eine Tür und ein Fenster, das auf die Berge und den Ort Davos hinausblickt, sind die einzigen Fluchtwege aus dem überwältigenden Bild.
Die Betrachterin wird auf allen Seiten mit einem Luftbild konfrontiert, das auf den ersten Blick einen kahlen Berg ohne Pflanzenwuchs zu zeigen scheint. Bei näherer Betrachtung erkennt man eine Industrielandschaft, völlig umgepflügt von den Tiefladern, mächtigen Baggern und Lastwagen, die auch auf dem Bild zu sehen sind. Bergbaugesellschaften sprengen dort die oberen Schichten der Berge, nachdem sie die unterirdischen Ressourcen durch Fracking ausgebeutet haben. Diese als «Bergbau durch Gipfelabsprengung» bekannte Technik erlaubt es die Kohlenflöze vom umliegenden Gestein zu trennen.5 Geröll hat den ganzen lokalen Pflanzenwuchs ersetzt, bis auf die Bildhälfte an der Eingangswand, wo eine Grünzone erhalten blieb. Dem Bildtitel lässt sich entnehmen, warum sie verschont blieb: hier liegt ein Friedhof. Und er befindet sich ausgerechnet auf einem Kohleflöz, das Millionen von Dollar wert ist.
Für diese Arbeit hat Kessler über sechzig Fotografien verwendet, die er aus einem Flugzeug aufnahm, das über das Gelände flog. Durch ein in der modernen Kartografie gängiges algorithmisches Verfahren veränderte Kessler die Grösse der Fotos digital, setzte sie zusammen und verlieh ihnen eine leichte Unschärfe. Das dadurch entstehende Bild gleicht eher einem riesigen digitalen Gemälde, unterbrochen von einigen blinden Flecken in der Landschaft, für die Kessler das fotografische Rohmaterial fehlte. Perspektivenwechsel bei den Übergängen zwischen Wand und Boden tragen zur verwirrenden Wirkung auf die Betrachterinnen bei. Zugleich wird die das Bild begehende Betrachterin zu einem Teil der Installation und überragt die Felsen, Lastwagen und Strassen.
Befragung der Naturdarstellung in einem neuen geologischen Zeitalter
Obwohl man die zerstörte Landschaft optisch und physisch begehen kann, lässt sich nie das gesamte Bild auf einmal erfassen. Es ist mit anderen Worten «so gross, dass es jede Vorstellungskraft übersteigt», wie Kant die Wirkung des «Mathematisch-Erhabenen» beschrieb. Tatsächlich waren Berge die beispielhafte Metapher für das Erhabene, dem seine Zeitgenossen in der Malerei und Literatur nachgingen. Wie Thomas Schlesser bemerkt, erlebten die Künstler auf ihren Reisen durch Europa das Erhabene am eigenen Leib in der Natur, indem sich ihnen prächtige Ausblicke von Klippen und Berggipfeln boten.6 Von Caspar Wolfs dramatischen Alpenbildern bis zu Caspar David Friedrichs allegorischen Landschaften wird die Natur zur Quelle von Furcht und Ehrfurcht, im Kontext der um sich greifenden Industrialisierung. Die romantische Malerei dieser Künstler an der Schwelle zum 19. Jahrhundert entspricht Kants «Dynamisch-Erhabenem»: «Die Natur wird als bedrohlich erfahren, auch wenn man weiss, dass man sie von sicherer Warte aus betrachtet.»7
Auch Kessler bewegt sich auf diesem Gebiet, wenn er die Betrachterin dem Schreckensbild einer durch menschliches Eingreifen verwüsteten Natur aussetzt. Fenster und Tür im Saal öffnen sich nämlich auf eine Realität, die scheinbar von den Bergwerken West Virginias weit weg ist, und wiegen die Betrachterin durch die Museumsumgebung im friedlichen Alpenkurort in Sicherheit. Doch durch diese Öffnungen sieht man nur eine andere Art von konstruierter Umgebung: Häuser und Berge, die ebenso mit der romantischen Vorstellung von unberührter Natur, die immer noch im kollektiven Unbewussten herumgeistert, brechen und für Sportmarken, Touristenziele und gar Schweizer Banken werben. Ob in den Bergen vor dem Museum oder auf Kesslers Bild, so viel macht dieses Setting deutlich: Die Menschen haben auf ihre Umwelt langfristig und in grossem Stil eingewirkt, gar in geologischen Dimensionen.
In diesem Sinne reiht sich Kesslers Arbeit in den weiteren Horizont der modernen aktuellen Theorien und Forschungen über das Anthropozän8 ein, einem im Jahr 2000 von Paul J. Crutzen und Engen F. Stoermer geprägten Begriff für ein neues geologisches Zeitalter, der die Menschheit wegen ihrer Wirkungsmacht auf die Erde über längere Zeiträume selbst als geologische Kraft auffasst. Oft wurde argumentiert, dass diese Entwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der einsetzenden industriellen Revolution und der Erfindung der Dampfmaschine im Jahr 1784 begann.9 Nach wissenschaftlicher Einschätzung dieses Umbruchs bedeutet dies, wie McKenzie Wark meint, dass «die Auffassung von der Welt als eines sich selbst korrigierenden, ausgleichenden und heilenden Ökosystems gestorben ist».10 Trotzdem bleibt es nach wie vor schwierig, die Korrelation zwischen menschlichen Aktivitäten und Umweltphänomenen wie der globalen Erwärmung zu erklären, weil diese nach Timothy Morton nicht unmittelbar einleuchtet und zu abstrakt bleibt, da es zu ihrem Verständnis wissenschaftlicher Modelle bedarf. Zudem können sich die übergeordneten globalen Effekte auf der lokalen Ebene oder im Einzelfall unterschiedlich auswirken,11 zum Beispiel in Form von immer kälteren Wintern trotz global steigender Temperaturen.
Als Spiegel der Dringlichkeit, sich Umweltproblemen wie des Klimawandels, Artensterbens und der Versauerung der Meere anzunehmen, die das gesamte Ökosystem bedrohen, zeugt Kesslers Arbeit in West Virginia von den Auswirkungen des weltweiten Kapitalismus auf den Planeten. Auch wenn sie nicht alle Folgen des Kohlebergbaus wie erhöhte CO2-Emissionen und durch Sprengstoff und zur Trennung der Kohle verwendete Säure verursachte Gewässerverschmutzung aufzeigen können, so legen Kesslers Fotografien doch Zeugnis ab von der sichtbaren Verwandlung einer Landschaft, indem sie die Narben eines Geschehens von globaler Bedeutsamkeit offenlegen.
Kunst als performative Erinnerungsarbeit
Über die fotografischen Arbeiten hinaus haben Kesslers Nachforschungen in West Virginia eine geschichtliche Dimension, indem sie den Anfängen des Kohlebergbaus und dem Kampf der Bergarbeiter nachgehen. Während nicht weniger als sechs Jahren besuchte Kessler regelmässig die Region und war geduldig auf der Suche nach der übergreifenden künstlerischen Ausdrucksform für seine interdisziplinären Nachforschungen, war es ihm doch daran gelegen, die dramatischen ökologischen und politischen lokalen Gegebenheiten nicht einfach auszubeuten und zu usurpieren. Indem er sich Zeit liess, die Einwohnerinnen, Aktivistinnen und Bergarbeiterinnen kennenzulernen, gewann er das Vertrauen und die Akzeptanz ganz verschiedener Akteurinnen. Durch Interviews mit den Einwohnerinnen und dokumentarisches Filmmaterial zeigt Kessler Parallelen auf zwischen menschengemachter Landschaftszerstörung und dem entsprechenden sozialen Zerfall durch die Vertreibung der Einheimischen und die Entfremdung der Arbeiterinnen.
Die Erinnerung an das berüchtigte Matewan-Massaker, eine Schiesserei in den 1920er-Jahren, bei der sich die Kohlearbeiter Agenten von Baldwin-Felt gegenübersahen, die die Besitzer der Bergbaugesellschaft vertraten, wird heute von den Einwohnerinnen wachgehalten, die dieses Schlüsselereignis in der Bergbaugeschichte West Virginias Jahr um Jahr neu inszenieren. In seiner Mediencollage Staging Narratives, Matewan beleuchtet Kessler diese Kultur des historischen Gedächtnisses. Indem er seinen Filmaufnahmen von der einheimischen Neuinszenierung des Matewan-Massakers Ausschnitte aus dem Hollywood-Film Matewan (1987) von John Sayles gegenüberstellt, verbindet er zwei zeitliche Ebenen. Die Schauplätze und Aktionen in Kesslers Material widerspiegeln den Film, der Anachronismus der Neuinszenierung wirft hingegen ein Schlaglicht auf den andauernden Prozess des sozialen Kampfes.
Statt sich selber als Organisator dieses lokalen Projekts ins Zentrum zu stellen, bleibt Kessler meist an der Seitenlinie und beteiligt sich dadurch, dass er Aktivitäten oder Diskussionen zwischen den Akteurinnen fördert. Im Gegensatz zu Jeremy Dellers berühmter partizipativer Performance, der 2001 den Kampf um Orgreave mit achthundert Statisten und zweihundert ehemaligen Bergarbeitern nachstellte, stützte sich Kessler für sein Filmmaterial auf die eigenständigen Aktionen der Einwohnerinnen. Seine Interventionen in die Aufführung sind konsequent minimal, und doch schafft seine Anwesenheit eine neue Situation, die ungeplante Vernetzungen und Initiativen beförderte – zum Beispiel wollten die Darstellerinnen aus eigenem Antrieb gewisse Szenen vor der Kamera nachspielen oder beschlossen, ein eigenes Museum zu gründen, in dem sie die Geschichte des Bergwerks dokumentierten. Kesslers Anwesenheit erhellt den Wandel, der dann ermöglicht wird, wenn sich der Künstler-Ethnograf in eine Gemeinschaft einbringt, um eine gewisse Subjektivität als solche zu teilen, ohne seine eigenen Ansichten und seine soziokulturelle Perspektive durchsetzen zu wollen.
Eine zeitgenössische soziale Plastik: Kunst als Medium der Partizipation
Sowohl in seinem Film Staging Narratives, Matewan wie in seinen Installationen ermöglicht Kessler den Beteiligten den Zugang zu offenem und freiem Experimentieren, Diskutieren und Handeln, in der Absicht, den sozialen Kontakt unter ihnen zu fördern, soziale Gruppen zu mischen, künstlerische und politische Fragen zu verhandeln. Diese Form der Wissensproduktion und –teilung erinnert an die Strategien, die Joseph Beuys in seiner erweiterten Kunstpraxis entwickelte, insbesondere an die «soziale Plastik», mit der er sich seit den frühen 1970er-Jahren beschäftigte, indem er Objekte und politisch aufgeladene Statements in einer «Lecture Performance», wie wir es heute wohl nennen würden, verband, um der Frage nach dem Wesen der Demokratie politisch, künstlerisch und pädagogisch nachzugehen.12 Und auch Beuys erweiterte diese soziale Praxis und stellte sie für die documenta VII in einen ökologischen Rahmen: Für 7000 Oaks stellte er vor dem Fridericianum keilförmige Basaltstelen auf mit der Anweisung, neben jeder von ihnen auf dem ganzen Stadtgebiet eine Eiche zu pflanzen. Wie Beuys in einer frühen Verlautbarung erklärte, schuf er dieses Werk nicht, «um dringend etwas für die Biosphäre zu tun oder der Ökologie zuliebe zu tun, sondern um durch den Werkentstehungsprozess besser zu vermitteln, was Ökologie heisst».13
Angesichts der aktuellen Herausforderung des Klimawandels können wir Mathias Kesslers Werk als Fortsetzung dieser Bewusstseinsarbeit begreifen – mit der gebotenen Berücksichtigung der heutigen Verhältnisse und der Notwendigkeit kollektiven Handelns. Statt mittels Basaltstelen und Eichen aktiviert Kessler sein Publikum mit – jawohl – einem Kühlschrank gefüllt mit Bier und einer Miniatur-Eisskulptur, die Friedrichs berühmtes Gemälde Das Eismeer oder die gescheiterte Hoffnung nachbildet. Diese kunstgeschichtliche Anspielung konfrontiert die Besucherinnen einmal mehr mit dem Erbe der Romantik,14 diesmal mittels einer allegorischen Vision: Das gestrandete, im Eis festgefrorene Boot auf der rechten Seite von Friedrichs Gemälde wurde nicht nur als der gescheiterte Vormärz, sondern allgemeiner als die gescheiterte Gesellschaft interpretiert.15
Kessler verwendet sowohl Allegorie wie Metonymie. Mit West Virginia Mining Landscape stellt er eine spezifische Umweltzerstörung dar, die exemplarisch die globale Ausbeutung von natürlichen Ressourcen, sowohl menschlichen wie nicht-menschlichen, von Lebewesen und Bodenschätzen meint. Mit Eismeer lässt er die Betrachterin an der Zerstörung des romantischen Ideals mittun, indem sie im übertragenen wie im Wortsinn die von Friedrich verwendeten Motive dahinschmelzen lässt, wann immer sie die Kühlschranktür öffnet.
Statt über die anhaltende menschengemachte Zerstörung der Natur in Schriften oder öffentlichen Aktionen zu theoretisieren, lässt Kessler die Betrachterin diese Rolle übernehmen, indem er sie dazu befreit, mit einem Bier in der Hand im Museumsraum zu sprechen. Wie Claire Bishop ausführt, spiegelt sich im Aufschwung der partizipativen Kunst unser aktueller Bedarf an kollektiven Debatten über gesellschaftliche Fragen.16 In unserer Zeit der Umweltkrise entwirft Kessler Szenarien, die zur Mitwirkung und zum Handeln drängen, während sie gleichzeitig aus den individuellen und kollektiven Erfahrungen der Betrachterinnen schöpfen. Mehr als durch direkte politische Einmischung offenbart sich dadurch, wie Kunst das Potenzial haben könnte, breitere soziale und politische Entwicklungen anzustossen.
Übersetzt aus dem Englischen von Irma Wehrli
Dieser Text wurde ursprünglich in Mathias Kessler. Staging Nature, hg. von Dr. Thorsten Sadowsky, Kirchner Museum, 2018, veröffentlicht.
Sie können das Buch bestellen direkt beim Schreiben an info@kirchnermuseum.ch
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Jacques Rancière, The Emancipated Spectator, London / New York 2009, S. 131–132. ↩
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Aus Gründen der Lesbarkeit wurde in dieser Übersetzung die weibliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter. ↩
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Jacques Rancière, Malaise dans l’esthétique, Paris 2004, S. 67. ↩
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Stephan Berg, «The Invention of Nature», in: Dieter Buchhart (Hrsg.): Mathias Kessler. Nowhere to Be Found, Ostfildern 2015, S. 195–203, hier: S. 198. ↩
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Näheres zu den Folgen des Bergbaus durch Gipfelabsprengung bei John Mcquaid, Mining the Mountains, in: Smithsonian Magazine, Januar 2009, https://www.smithsonianmag.com/science-nature/mining-the-mountains-130454620/ (zuletzt besucht am 10. Juni 2018). ↩
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Thomas Schlesser, L’univers sans l’homme: Les arts contre l’anthropocentrisme (1755–2016), Paris 2016, S. 43. ↩
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Hannah Ginsborg, «Kant’s Aesthetics and Teleology», in: Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Fall Edition 2014, https://plato.stanford.edu/archives/fall2014/entries/kant-aesthetics (zuletzt besucht am 12. Mai 2018). ↩
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Ein nach wie vor umstrittener Begriff, da seine Etymologie auf die Menschheit als Ganzes verweist, während einige Theoretiker einwandten, nicht alle Menschen trügen im selben Mass zum Anstieg des CO2 in der Atmosphäre und zur massenhaften Ausrottung von Tierarten bei, siehe T. J. Demos, Against the Anthropocene, Berlin 2017, S. 55–58. ↩
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Paul J. Crutzen und Engen F. Stoermer, Global Change Newsletter, Nr. 41, Mai 2000, S. 17–18. ↩
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McKenzie Wark, Molecular Red: Theory for the Anthropocene, London 2015, S. 14. ↩
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Timothy Morton, Hyperobjects, Minneapolis 2013, S. 48. ↩
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Joseph Beuys and Dirk Schwarze, «Report on a Day’s Proceedings at the Bureau for Direct Democracy II 1972», in Claire Bishop, Participation, Cambridge 2006, S. 120–124, hier: S. 124. ↩
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Lucrezia De Dominizio Durini, Beuys Voice, Mailand 2011, S. 459. ↩
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Hans von Trotha, «Verschiedene Empfindungen vor verschiedenen Landschaften», in: Die Romantik – Eine Erfindung, München 2006, S. 32–57, hier: S. 57. ↩
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Peter Rautmann, Caspar David Friedrich. Das Eismeer. Durch Tod zu neuem Leben, Frankfurt am Main 1991, S. 35. ↩
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Claire Bishop macht Zeiten aus, in denen Partizipation institutionell eine grössere Rolle gespielt habe: 1917, 1968 und in neuerer Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion. Siehe Claire Bishop, Artificial Hells, London 2013, S. 276. ↩